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Normalität

Ich stehe im Wohnzimmer meiner Eltern. Alles ist ganz normal: Mein Vater sitzt im gelben Pullover in seinem Sessel und telefoniert. Meine Mutter spielt mit Zoe. Alles ganz normal, oder nicht?

Ein Detail fällt auf: Mein Vater hat sine Zigarette in der Hand. Er raucht nicht wenig, aber nie im Wohnzimmer wenn seine Enkel da sind.

Ich schaue nur zu, aber mein Blick wandert zur Kommode. Ich will nicht dort hin schauen, aber kann nicht anders. Dort steht ein Bilderrahmen mit Fotos. Von seiner Beerdigung.

Die Szene war so normal, so selbstverständlich und wurde genau so abrupt zerstört wie er aus dem Leben gerissen wurde. Es war nur ein Traum, eine Erinnerung, die das Geschehene nicht wahr haben will.

Jetzt bin ich wach und habe das Traumbild noch ganz klar im Kopf. Diese Momente sind wertvoll, so unendlich wertvoll, weil sie eine Erinnerung bewahren. Für einige Sekunden ist die Welt in Ordnung, 2016 hat noch nicht mit seiner tödlichen Grausamkeit zugeschlagen.

Dann merke ich, wie eine Träne langsam an meinem Gesicht lang läuft. Die Sekunden der Normalität sind vorbei, jetzt kommt die Quittung. Die harte Realität ist zurück: Er ist tot. Wir haben ihn zu Grabe getragen und ein Teil von mir kann das immer noch nicht glauben.

Sein gelber Pullover leuchtet dort im Sessel. Er hatte viele davon und hat sie so gerne getragen, dass Bea ihren Opa früher manchmal gar nicht erkannt hat, wenn er keinen trug. Jetzt trägt er auch einen, im Sarg.

Die Träne ist längst vorbei, aber viele weitere folgen ihr. Alle sind stumm. Ich sehe noch jedes Detail der drei vor mir, aber jetzt macht es mich unendlich traurig. Irgendwann schaffe ich es, mich zur Seite zu drehen und an meine Frau zu kuscheln. Ihre Haare trocknen meine Tränen. Mich in so einem Moment einfach festhalten zu können, ist so unendlich wertvoll.

Die Szene verblasst langsam und die Tränen wreden weniger. So wie auch die Erinnerung langsam verblasst, auch wenn ich das nicht möchte.

Seit zehneinhalb Monate ist diese Szene gar nicht mehr normal und ich werde sie nie wieder sehen können.

IMG_20151226_113235.jpg

 

1 Kommentar. Schreib was dazu

  1. Hallo meine Liebe,

    auch wenn es etwas her ist möchte ich dir trotzdem mein Beileid ausrichten.
    Ich kann mir nur vorstellen, wie stark der schmerz nach wie vor ist und hoffe, dass es mit der Zeit immer weniger wird. Auch wir mussten uns in diesem jahr von einem geliebten Menschen verabschieden und nach wie vor ist es schwierig mit diesem loch zu leben.

    Ich wünsche dir weiterhin alles Gute und viel Stärke.
    Alles Liebe,
    Ms.Ninberry

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