Typisch deutsch

Eigentlich wollte ich heute über Wassertiere schreiben, aber dann kam etwas dazwischen. Genauer gesagt: Zwei gebildete Damen und Mütter von Kindern in Zoe's Alter. Beide haben - ziemlich laut - ein typisch deutsches Verhalten an den Tag gelegt und ich musste mich wirklich zurückhalten, um mich nicht einzumischen.

Eine von beiden ist Ärztin mit eigener Praxis, die andere Lehrerin für nachpupertäre Jahrgänge und beide sind vom Leben schwer gezeichnet. Ein solches Schicksal möchte ich nicht haben - ein Glück, dass ich nie studiert habe.

Die Ärztin hat ihrer Bekannten in weit mehr Einzelheiten erzählt, als ich hier wiedergeben, ja als ich jemals wissen möchte, wie sie alle möglichen und unmöglichen gefährlichen Dinge aus ihrem Kind extrahiert. Zu den härteren Kalibern gehören Weintrauben und verschiedene Süßigkeiten. Hier also die Schritt-für-Schritt-Anleitung einer erfahrenen Medizinerin und Mutter, die diese Prozedur anscheinend sehr regelmässig an ihrem Sprössling testet:

1. Kind mit dem Kopf nach unten halten
2. Kind schütteln
3. Mit den Fingern, einem kleinen Löffel oder was sonst noch gerade greifbar ist, das tödliche Objekt aus dem Kind entfernen (selbstverständlich aus dem Mund!)
4. Wenn das Kind dabei kotzt (O-Ton), ist das auch egal

Von der nächsten Grausamkeit erfuhr sie schließlich erst durch ihre Gesprächspartnerin: Ärzte verdienen Geld! Unsere - von mir eigentlich als sehr gemäßigt und weitgehend objektiv angesehene - Tageszeitung hat, laut ihrer Erzählung, in einer kaum zu ertragenden Weise genau das berichtet und dabei total parteisch die Fakten verdreht. Zur Erinnerung: Vor nicht sehr langer Zeit gingen die vom Bundesamt für Statistikfälschung frisch ermittelten durchschnittlichen Ärztehonorare allgemein durch die Presse. Unsere besagte unhaltbare Tageszeitung hat doch tatsächlich die Frechheit besessen, die publizierten Bruttoeinkommen der unterschiedlichen Berufsgruppen abzudrucken und dabei nur in einem Absatz erwähnt, dass davon noch Einkommenssteuern bezahlt werden müssen! Ist das zu glauben? Bestimmt wäre es besser gewesen, wenn sie für jeden Arzt in der Region Hannover Steuerklasse, Kinder- und sonstige Freibeträge erfragt hätten, das jeweilige Nettoeinkommen errechnet und dann abgedruckt hätten. So wie sie (und so gut wie alle anderen respektablen Massenmedien) es bei jeder anderen Einkommensangabe jedes anderen Berufsstandes machen. Ups, dort werden auch immer Bruttogehälter angegeben, damit wären die für die Ärzte publizierten Zahlen ja sogar mit normalen Gehältern vergleichbar. So ein Unsinn aber auch.

Noch schlimmer trifft es allerding die Lehrer und selbstverständlich musste auch das unverzüglich und in einer Lautstärke kommuniziert werden, die es mir unmöglich machte, nicht jedes einzelne Wort zu vernehmen - vom anderen Ende des Raumes aus.

Das Lehrer nach dem Willen der niedersächsischen Landesregierung eine Stunde mehr arbeiten sollen, ist sicherlich ein Punkt, der wenig Verständnis findet, allerdings ist sich kaum jemand bewusst, was den armen Lehrern tatsächlich damit aufgedrückt wird! Zu der einen Stunde Mehrarbeit kommen noch zwei für Vor- und Nachbearbeitung, aber auch nur, wenn es sich nicht um eine neue Klasse oder ein neues Fach handelt, dann wird das weitaus mehr. Dazu kommt, dass Lehrer - anscheinend - jeden Tag eine Stunde nur mit dem Lesen von Emails beschäftigt sind.

Als verantwortungsvolle Lehrerin - wie diese Vertreterin des gebeutelten Berufsstandes extra betonte - muss sie jede Stunde ausgiebig vorbereiten und durchplanen. Alles, was sie sagen will, jede Frage, die ihre Schüler stellen könnten, jede Frage, die sie selbst stellt, muss vorbereitet, ausgiebig durchdacht und schriftlich festgehalten sein. Ich Dummkopf unterlag doch tatsächlich der Illusion, dass Lehrer, die seit zweistelligen Jahreszahlen den gleichen Stoff im gleichen Fach unterrichten, diesen eigentlich beherrschen müssten und normalerweise nach dem ersten Jahr ihre Unterrichtsmaterialien weitgehend wiederverwertbar vorbereitet haben sollten.

Die ausführliche Berechnung und Begründung, warum Lehrer weniger Urlaub als normale Arbeitnehmer haben (Ferien sind schließlich kein Urlaub, sondern nur "unterrichtsfreie Zeit"), kann ich leider nicht mehr wiedergeben - wie gesagt, ich habe nicht studiert.

Glücklicherweise wurde unsere unfreiwillige Gesprächs- (bzw. für die meisten reine Zuhör-)Runde an dieser Stelle unterbrochen, sonst hätte ich die Klagen der armen Frauen noch länger mitanhören müssen. Aber sie haben den anwesenden Kindern wenigstens eine praktische Lektion in Staatsbürgerkunde gegeben: Die Deutschen jammern gerne und viel!

Nur um das klar zu stellen: Ich bin weder gegen Ärzte, noch gegen Lehrer. In Anbetracht der kürzlich veröffentlichten Durchschnittseinkommen habe ich mich - wie bestimmt viele andere - natürlich auch gefragt, warum ich nicht Nuklearmediziner geworden bin und jetzt den Spitzensteuersatz zahle. Ebenso habe ich einen sehr großen Respekt vor Kindergarten-Erzieherinnen und Lehrern. Nicht nur, dass sie sich den ganzen Tag mit Horden von wilden Kindern rumschlagen müssen (auch wenn die Quälgeister im vorgetragenen Fall vermutlich eher mit Führerschein und EiPhone als mit Puppe und Schnuller durch die Gegend laufen), sie müssen ihnen auch noch alles mögliche beibringen. Zoe führt mir momentan regelmässig vor, wie schwer es ist, einfachste Dinge zu vermitteln. Sie würde gerne anfangen, mehr als die auswendig gelernten Worte zu lesen, aber ich habe noch keinen Weg gefunden, ihr den Schritt vom "E I Es" zum "Eis" zu vermitteln.

So in etwa das letzte, was ich mit Bea geht erreichen wollte, ist Mitleid. Trotzdem hätte ich beiden Beschwerdeführerinnen vermutlich Leseproben-Flyer in die Hand gedrückt, wenn ich welche dabei gehabt hätte. Nur um sie für kurze Zeit von ihrem großen Leid abzulenken.

Wenigstens übe ich mich mit diesem Post auch in gutem deutschem Staatsbürgertum und beklage mich ausführlich.

PS: Seit gestern ist auch der Bundestags-Wahl-o-mat online: Multiple-Choice-Jammern für alle!